Mittwoch, 5. September 2012

Newsletter 10: Das dicke Ende




Ihr Lieben,

wie ihr alle wisst, sollte heute meine letzte Chemo sein. Ich habe bis vor zwei Wochen mit der Buchung unseres Urlaubs gewartet: eine Woche St. Peter Ording und im Anschluss eine Woche am Weissenhäuserstrand.
Samstagnacht sollte es losgehen, so dass wir am Montag ganz entspannt Louis Geburtstag im Urlaub feiern können. Er freut sich schon seit Wochen darauf und auch Dominik und ich sind voller Vorfreude, nach zwei Jahren Umbau, Schwangerschaft und Chemo endlich wieder mal Zeit mit der ganzen Familie zuhaben. Am 26.September steht schon die nächste Op an. Soweit so gut.

Dominik wurde dann letzten Mittwoch übel und lag fast zwei Tage nur im
Bett. Ich habe versucht die Kinder und mich so gut es geht von ihm fernzuhalten.
Letzte Samstagnacht hatte ich einen seltsamen Schlaf und am Morgen
gribbelten mir die Fußsohlen. Oh nein, dachte ich, jetzt bekomme ich
doch noch einen Denkzettel an die schöne Chemozeit. Musste in der letzten
Woche auch feststellen, dass ich so langsam Gedächtnislücken bekomme und
am Abend schon nicht mehr weiss, was ich am Morgen gemacht habe. Beim
Aufstehen merkte ich, dass es mir auch sonst etwas schummrig war.
Deshalbging ich gleich mal ins Bad, um Fieber zu messen. 38,2 Grad, na
das gehtja noch! Vielleicht ist es bis heute Mittag zur Hochzeit ja
wieder weg. Aber moment mal, ich muss doch sofort in der Uni anrufen,
wenn ich über38 Temperatur habe. Ich, also die Notfallnummer gewählt.
Die Dame meinte freundlich, dass ich meine Sachen packen und gleich
vorbei kommen sollte. Ich fragte nur, ob es denn so schlimm sei?! "Na,
sie sind gut! Sie bekommen Chemotherapie und haben Fieber, das ist immer
ernst!" "Aha!" Gut, wir also die Sachen gepackt, die Kinder verteilt und
in die Uni gefahren. Nach meiner Vorstellung war klar, dass ich für zwei
bis drei Tage bleiben muss und Antibiotika bekommen würde. Ok, dachte
ich, das kriegen wir dann ja noch alles mit der Chemo hin. Leider bekam
ich Sonntag höheres Fieber und auch Montag blieb der Thermometer bei 39
Grad hängen. Die Blutwerte waren soweit in Ordnung, den Ärzten war es
ein Rätsel. Dann hieß es, dass die Chemo so diese Woche nicht
durchgezogen werden kann und dass ich noch länger bleiben müsste.

Ich war kurzzeitig echt verzweifelt, aber fest davon überzeugt, dass das
Fieber morgen weg ist. Der Arzt hat mich total unverständig angeschaut
und gesagt: "Das können Sie nicht beeinflussen!" Ich darauf: "Doch,
irgendwie kann ich das schon." Ich wollte es Louis nicht antun, ihn
wieder zu vertrösten. Deshalb wollte ich persönlich mit der
Stationsoberärztin der Chemoambulanz sprechen. Gestern war das Fieber
tatsächlich weg und ich konnte die Ärztin davon überzeugen, dass ich die
Chemo am Freitag noch bekommen soll, wenn die Blutwerte am Donnerstag
stimmen.

Gut, jetzt darf ich also morgen heim! Ich vermisse meine Kinder sooooo!
Für Dominik waren das auch wieder anstrengende Tage. Morgens arbeiten,
nachmittags die Kinder. Jael wurde von 8:30 Uhr bis 12:30 Uhr wieder von
einer neuen Dorfhelferin betreut und bis um 14 Uhr haben wir sie sonst wo
verteilt. Ausgerechnet diese Woche ist meine Schwägerin nach Ägypten
und ein Teil meiner Familie nach Spanien zur Hochzeit meines Cousins
verreist. Wenn diese Woche rum ist und wir am Wochenende im Auto sitzen, mache ich
drei Kreuze.

Das Zimmer im Krankenhaus habe ich mit Oma Lemke aus Merdingen und einer
schrulligen alten Frau Morthon geteilt. Hut ab vor Frau Lemke! Die Frau
hat echt Humor. Zuerst dachte ich, dass sie nichts versteht, weil sie
nie ein Wort geredet hat, aber das war wohl ihre Taktik. Frau Morthon
war "Stehts bemüht" ALLES selber zu machen und Frau Lempke zu bemuttern
nicht ohne den Schwestern bei jedem Rundgang zu sagen, was sie alles
alleine geschafft hat, was Frau Lemke gesagt, weiviel sie getrunken und
was Frau Lempke in der Nacht alles angestellt hat und was ihre Tochter
für ne Superfrau ist.... Üble Sache. Ich kann eigentlich viel ertragen,
aber bei der Frau musste ich mich total beherrschen. Ich war so dankbar
für den Paravant, den eine Schwester irgendwann zwischen uns aufgebaut
hat. Zwei total gegensätzliche Frauen in fast gleichem Alter: die eine
musste schon um 6 Uhr ihren Kaffee haben,war den ganzen Tag nur mit
ihrer Köperhygiene beschäftigt und ging den ganzen Tag ihren Mitmenschen
auf die Nerven, mit ihrem Gejammere über ihr Aussehen. Die andere Frau
musste auf den Topf gesetzt werden, musste dort in "aller Öffentlichkeit"
ihre Notdurft verrichten und sich dabei noch blöde Sätze der Schwestern
anhören und trug das mit Humor und Würde. Niemals ein unfreundlicher Ton
oder eine Beschwerde. Unglaublich schön die Frau, mit weißem lockigem
Haar und gütigen, lachenden Augen eine "Bilderbuchoma" sozusagen.
Jedenfalls war Frau Morthon am Dienstag entlassen worden und kaum war
sie fort, konnte Frau Lempke reden. Hab sie gleich heute Nachmittag auf
einen Kaffee in den Park eingeladen. Bis sie aber auf dem Topf und
angezogen war, ihre Infusion noch hatte und im Rollstuhl saß war es
16:30 Uhr und die Sonne leider schon weg gewesen..

Bei meinen zwei Zimmergenossinnen muss ich an ein Buch denken, das ich
gerade gelesen habe. Da ging es um die unterschiedlichen Lebensphasen,
wie Sturm und Drang, Mitlife-Crises und die Lebenskrise ab 65 J. in der
es darum geht loszulassen. Meine beiden Zimmergenossinnen sind alt, die eine hat ihre
Lebenkrise schon überwunden, die andere kann einfach noch nicht loslassen
und macht alle drum herum verrückt. Menschen mit lebensbedrohlichen
Krankheiten machen diese Lebenskrise ab 65. meiner Ansicht nach früher
durch und sind damit mehr oder weniger erfolgreich. Gerade wurde das
Bett von Frau Morthon wieder belegt. Eine Frau mit 60 Jahren, bei der im
August bei einer Routineuntersuchung Krebs diagnostiziert wurde. Sie und
die ganze Groß-Familie sind total aufgelöst und panisch. Ich bin einfach
nur froh, dass ich mich mit dem Thema "Loslassen" schon viel früher
einmal auseinander gesetzt habe, so dass ich nicht in so eine
Schockstarre gefallen bin: Mensch- bedenke, dass du sterben musst, auf
dass du klug wirst!
Habe am Samstag und Sonntag nur geschlafen, am Montag nur gelesen und am
Dienstag Fernseh geschaut u.a. ein Interview mit Samuel Koch. Ich hab
von dem jungen Mann noch nicht so viel mitbekommen. Weil wir doch keinen
Fernseher Zuhause haben, hab ich ihn das erste mal gesehen. Auf
jedenfall einfach krass, wie er sein Schicksal in die Hand nimmt. So
jemand bewundere ich.

Wie gesagt habe ich am Dienstag Fernseh geschaut und mich auf den
Sat1-Film gefreut. Ausgerechnet an dem Abend musste ein Film kommen, in
dem es darum geht, dass die Frau, die Krebs hat, noch bis zum Geburtstag
ihrer Tochter leben möchte, den Tag noch erlebt und dann tatsächlich
stirbt. Danach kam noch eine Reportage über betroffene Frauen. Mir sind
von Anfang bis zum Ende die Tränen gelaufen. Ich war voll verheult, als
die Nachtschwester ihre Runde gemacht hat. Heute morgen hat mich die
Morgen-schwester angesprochen und gemeint, dass ich ziemlich Urlaubsreif
wäre, von der Psyche her. Wieso? habe ich gefragt, worauf sie meinte,
dass sie es bei der Übergabe davon gehabt hätten.....mir wird gerade erst
klar,wie die Schwester drauf gekommen ist.

Apropos Schreiben. Ich habe gelesen, dass es extra Schreibwerkstätten
für Krebspatienten gibt. Merke langsam auch, dass der Newsletter für
mich auch eine Art Therapie ist. Ich mache mir im Alltag oft Notizen
über Dinge, die mich gerade beschäftigen und dann in einer ruhigen
Minute mache ich mir meine Gedanken darüber und schreib sie auf- mache
mir weniger Gedanken darüber, ob es euch interessieren könnte, sorry.

Aber es interessiert euch doch bestimmt, was aus meinem Chemotaxi
geworden ist?
Also, das letzte Mal als ich Chemo hatte ist mir kühler Wind um die Nase
geblasen. Ich hab mich gewundert, hab aber nix gesagt. Dann erzählt mir
der Taxi-Fahrer aber, dass er zu seinem Chef gegangen ist und gemeint
hat, dass sie bei dem Autokauf vor drei Jahren einen Fehler gemacht
hätten, weil sie auf die Klimaanlage verzichtet hätten. Darauf meinte
sein Chef: Wieso- das Auto hat doch Eine! Wunderbar! Ich könnte mich
wegschmeißen vor Lachen.

Donnerstag 06:38 Uhr

Oh Mann, das war eine Nacht! Bin froh, dass ich heute heim darf! Gestern
Abend ist das Handy der Dame bis 22 Uhr nicht mehr still gestanden. Die
Schwester hat mit ihr die OP-Planung besprochen, gesagt, dass sie morgen
ungeschminkt als erste am Morgen auf dem OP-Tisch liegen wird. Die Dame
brauchte dann gestern Abend eine Stunde, bis sie sich an ihrem kleinen
Tischspiegelchen abgeschminkt, gecremt, gezupft und ihren Schmuck
abgenommen hatte. Dann hat sie ihren Kimono angezogen und Ewigkeiten ihre
Kleider sortiert. Heute morgen um 5:45 Uhr stand sie auf, um sich zu
waschen, ihre 2cm-Frisur zu föhnen und wieder ihre Kleider zu sortieren.
Die Frau ist somit sich selbst beschäftigt, dass sie für andere drum
herum kein Gespür mehr hat. Die Dame bestätigt meine Theorie über die
Lebenskrise voll!

So jetzt geh ich mal duschen....

11.30 Uhr
Endlich Zuhause! Morgen Chemo, wie geplant und dann Tschüß!